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Beitrag vom Mittwoch, 11. September 2019

Politisches Schach und die Rache der Demokratie

Norwegen hat gewählt. Unter anderem neue Fylkesparlamente. In der Provinz Møre og Romsdal begann nun nach Auszählung der Stimmen ein 24-stündiges Schauspiel, das durchaus Bühnenpotential hat. Aus kultureller Sicht ist es in seiner Dramatik nahezu genial, aus gesellschaftlicher Sicht jedoch recht schräg und auch etwas peinlich. Auf jeden Fall gibt es viel Spannung, eine unvorhergesehene Wendung und bis jetzt ein offenes Ende.
Mögen die Spiele beginnen!

Die Voraussetzungen

Die Wähler Møre og Romsdals hatten, das muss man zugeben, den Politikern eine schwierige, nahezu unlösbare Aufgabe gestellt. Vier Parteien, die sozialdemokratische Arbeiterpartei (Ap), die politisch neutrale Zentrumspartei (Sp), die kapitalismusfreundliche Fortschrittspartei (FrP) und die Konservativen (H) erhielten nahezu gleich viele Stimmen, wobei Ap und Sp nur 350 Stimmen trennen. Die kleinen Parteien, linke, wie konservative, erhielten je zwischen 3 und knapp 6 Prozent, auch einige politisch neutrale Wählergruppen konnten Sitze im Parlament gewinnen. Eindeutige Mehrheiten für das linke oder das konservative Lager waren nicht auszumachen. Politische Kooperationen über ideologische Grenzen hinweg wurden also notwendig.

Zwei (ehemalige) Freunde

Die Konstellation der Ergebnisse rief nun zwei Parteivorsitzende auf den Plan, Tove-Lise Torve von der Ap und Kristin Sørheim von der Sp. Kurz nach dem Bekanntwerden des vorläufigen Endergebnisses gingen beide als gute Freunde in den Verhandlungsraum – und verließen diesen als Feinde. Sørheim ging davon aus, dass nach drei Wahlperioden, in denen man die Arbeiterpartei unterstützte, nun die Reihe an die Zentrumspartei gekommen sei, den Ministerpräsidenten (fylkesordfører) zu stellen. Zumal man kräftig Stimmen hinzu gewann, im Gegensatz zur Ap, die herbe Verluste hinnehmen musste. Tove-Lise Torve (Ap) zeigte sich jedoch uneinsichtig und beharrte darauf, dass auch ein Vorsprung von nur 350 Stimmen ein Vorsprung sei und damit ihre Partei wiederum an der Reihe sei, das Fylke zu regieren.

Die Reaktion

Kristin Sørheim muss doch recht verbittert gewesen sein, denn nur eine Stunde später hatte sich die Zentrumpartei mit den Konservativen (Høyre, H) und zwei weiteren, kleinen, konservativen Parteien auf die Regierungsübernahme verständigt und die Ämter kurzerhand aufgeteilt. Allein, man besaß keine parlamentarische Mehrheit, war also auf das Wohlwollen anderer Parteien angewiesen. Als politisch geeinter Block, und nicht mehr als einzelne Parteien, trat man nun an die Arbeiterpartei heran und bat um Unterstützung. Diese jedoch fühlte sich übergangen und wendete sich brüsk ab. Der Block bat nun, es war bereits 3.30 Uhr in der Nacht, die rechte FrP um Unterstützung. Ein Amt als Belohnung für Stimmen hatte man nicht im Gepäck, bot dem Vorsitzenden der autofahrerfreundlichen Partei, Frank Sve, jedoch den Vorsitz im Ausschuss für Verkehrsfragen an. Dieser kippte vor Enttäuschung fast hinten über und zog in diesem Fall die Opposition vor.

Der Gegenangriff

Die beiden gedemütigten und enttäuschten Parteien, Arbeiterpartei und Fortschrittspartei, gingen nun im Geheimen zum Gegenangriff über und präsentierten kurze Zeit später dem erstaunten Publikum eine die Parteigrenzen sprengende wahltaktische Allianz. Zu dieser gehörten nun auch zwei Wahllisten, die Pensionistenpartei und die, man höre und staune, Grünen. Um diese ins Boot zu holen, war die FrP bereit, eine ziemlich gewaltige Kröte zu schlucken, wurde doch der Partei das Amt für Kultur- Wirtschafts- und Umweltfragen sowie ein Sitz im Verkehrsausschuss angetragen. Die parteipolitisch neutralen Grünen freute dies, berechtigterweise.

Die Demokratie schlägt zurück

Mit dieser äußerst eigenwilligen politischen Konstellation brach die Nacht zum Mittwoch an. Und als die Bürger der westnorwegischen Region am Morgen erwachten, staunten viele von diesen vermutlich nicht schlecht. Es war nun in den Medien zu lesen, dass Nachzählungen ergeben hatten, dass die Pensionistenpartei, welche die bunte Koalition der Willigen unterstütze, ihren Sitz zu Gunsten der politisch sehr linken Sozialistischen Linkspartei (SV) verlieren würde. Die Demokratie hatte ein Machtwort gesprochen.

Damit steht nun alles auf Anfang. Für eine parlamentarische Mehrheit sind 24 Stimmen notwendig, die aktuell ausgehandelten Koalitionen haben jedoch lediglich 20 bzw. 23 Stimmen auf ihrer Seite.
Die linke SV bittet nun inständig, Arbeiterpartei und Zentrumspartei mögen sich zusammenraufen und an den Verhandlungstisch zurückkehren, denn zusammen mit den Grünen und einer der Wahllisten, oder den kommunistischen Roten (Rødt, R), könnte es für eine linke Mehrheit reichen. Doch dafür bedarf es einiger Kompromisse und vor allem ein schnellstmögliches Verlassen der Schmollecke.

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